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Infektiösität/Reaktivierung Hi-Viren

Kategorie: Infektionen » Expertenrat Infektions- und Reisemedizin | Expertenfrage

28.05.2020 | 18:03 Uhr

Sehr geehrter Dr. Leidel,

ich wende mich mit der Frage nach einer Risikoeinschätzung bzw. mit allgemeinen Fragen zur Infektiosität von HIV außerhalb des Körpers an Sie. Ich möchte vorab dazu erklären, dass ich zwei Jahre lang wegen einer Zwangsstörung in Therapie war und es mir zwischenzeitlich besser ging. Seit der Corona-Pandemie kommen jedoch alte Ängste wieder hoch, vermutlich „triggert“ mich die aktuelle Lage, weil meine Erkrankung vor ca. zehn Jahren mit der Schweinegrippe begann und sich danach hauptsächlich auf die Angst vor HIV und Hep. C übertrug. Meine Frage basiert demnach nicht auf Faulheit, sich über die Übertragungswege von Krankheiten zu informieren, ganz im Gegenteil. Ich lese so ziemlich alles, was im Netz verfügbar ist, werde jedoch durch widersprüchliche Informationen nur noch unsicherer. Meine Therapeutin riet mir damals, immer erst eine paar Tage abzuwarten, da sich oft die Angst in Bezug auf eine vermeintliche Risikosituation von selbst legt. Wenn dies nicht der Fall wäre, solle ich mich an vertrauenswürdige Stellen wenden. Das ist nun das erste Mal seit drei Jahren, dass ich dies in Anspruch nehme, weil mir eine Situation seit einer Woche schlaflose Nächte bereitet. Ich würde ihnen diese gern nachfolgend schildern:

Vor einer Woche haben mein Freund und ich ein Ladekabel geöffnet, das wir im Internet bestellt hatten. An einem Ende befand sich ein rötlicher Fleck, ca. 1cm groß. Wir haben uns beide darüber gewundert und den Fleck auch berührt. Bei mir hat dieser natürlich direkt Panik hervorgerufen. Ca. 10-15 Minuten später hat mein Freund sich am Arm einen Pickel/Mückenstich oder Ähnliches aufgekratzt, er hat dann noch mehrfach gedankenverloren darüber gerieben, weil er nicht gemerkt hat, dass es geblutet hat. Ich habe aus Reflex ein Tuch mit Desinfektionsmittel geholt und auf die Stelle an seinem Arm gedrückt. Was mich nun konkret ängstigt: Das Kabel sah aus, als sei es schonmal retourniert worden. Mir ist bewusst, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dem Fleck um infektiöses Blut einer HIV-positiven (unbehandelten) Person handelt, gering ist. Aber durch meine Ängste gehe ich bei derartigen Flecken auf Gegenständen direkt davon aus und kann mich nur beruhigen, wenn ich wüsste, die Situation wäre auch dann nicht gefährlich, WENN dem so sei. Demnach habe ich Angst, dass mein Freund sich HI-Viren in seine blutende Stelle eingerieben haben könnte, weil wir das Kabel (und den Fleck) ja kurz vorher angefasst haben und er mit Druck auf seiner verletzten Stelle gerieben hat. Zudem dachte ich im Nachhinein, dass ich das Risiko durch das Desinfektionstuch noch vergrößert habe, weil das Blut dann ja nicht abfließen konnte. Ich möchte jedoch dazu erwähnen, dass das Kabel zuvor zwei Wochen unausgepackt in einem Karton (also ohne Licht bei Raumtemperatur) bei uns zuhause lag.

Sowas wie „HIV ist keine Schmierinfektion“ oder „Es ist weltweit noch kein Fall bekannt, bei dem sich jemand über xy infiziert hat“ helfen mir leider nicht wirklich weiter. Ich würde gerne eine „wissenschaftliche Begründung“ finden, die mir die Angst nimmt. Daher habe ich konkret zu zwei verschiedenen Aspekten im Internet recherchiert: a) die Überlebensfähigkeit von HIV in Flüssigkeiten außerhalb des Körpers und b) ob das Virus sich aus getrockneten Flüssigkeiten reaktivieren lässt. Das RKI schreibt zum Beispiel:

„HIV kann, je nach Umgebungsbedingungen, auch außerhalb des Körpers seine Infektiosität noch tagelang behalten. Für die Frage der An­ste­ckung­smöglichkeiten ist dies im Alltag aber meist wenig relevant, da in der Regel keine geeignete Eintrittspforte für das Virus mehr besteht. Dies gilt auch für Blut oder Sperma an Gegenständen. Sobald potentiell infektiöse Kör­per­flüs­sig­keit­en angetrocknet sind, besteht in der Regel keine Möglichkeit einer In­fek­ti­onsübertragung mehr. […] Auch wenn angetrocknetes Blut wieder in Lösung gebracht wird (z.B. bei Wiederverwendung einer gebrauchten Spritze) und aktiv in den Körper eingebracht (z.B. injiziert) wird, besteht ein Infektionsrisiko.“

  1. Diese Informationen verwirren mich zum Beispiel sehr. Wäre nicht eine aufgekratzte Stelle auch eine „geeignete Eintrittspforte“? Und was bedeutet es, dass das Blut in Lösung gebracht werden muss und dann in den Körper eingebracht? Könnte man dies auf die o.g. Situation anwenden, indem man sagt, dass mögliche Blutreste am Finger meines Freundes durch sein eigenes Blut, das aus der Stelle am Arm ausgetreten ist, wieder aktiviert wurden und dann durch sein Reiben auf der Verletzung in den Körper eingebracht wurden? In dem o.g. Text vom RKI klingt es aber so, als könnte auch das eigene Blut wieder zur Verflüssigung und damit Reaktivierung führen. Anderswo habe ich gelesen, dass die Hi-Virushülle zerstört wird, wenn die Trägerflüssigkeit eintrocknet, und dass man das Virus dann nur noch mit speziellen Lösungen im Labor reaktivieren könne (z.B.: https://www.aidshilfe-salzburg.at/inhalt/einmal-inaktiv-immer-inaktiv).

  2.  Neben dem Aspekt der Reaktivierung finde ich auch allgemein sehr unterschiedliche Angaben zur Infektiösität von HIV in getrockneten Flüssigkeiten außerhalb des Körpers. Manchmal heißt es, das Virus werde inaktiv, sobald die Trägerflüssigkeit trocknet, und dann sei es auch nicht mehr infektiös. Dann liest man, dass Studien gezeigt haben, dass es auch in trockener Flüssigkeit noch eine Zeit aktiv bleiben kann. Offenbar ist es aber doch so, dass das Virus definitiv nach einer Zeit x außerhalb des Körpers seine Infektiosität verliert, sonst würde das RKI bei der Dauer der Infektiosität in getrockneten Flüssigkeiten außerhalb des Körpers nicht von „tagelang“ (s.o.), sondern von „potentiell unendlich lang“ sprechen. Irgendwas muss demzufolge doch dann mit Viren in der getrockneten Flüssigkeit passieren, sodass sie nach einer gewissen Zeit nicht mehr infektiös sind, oder?

  3. Letztendlich stellt sich mir hinsichtlich der Unsicherheit bzgl. a) der Möglichkeit einer Reaktivierung und b) der Infektiosität außerhalb des Körpers eine Frage, die quasi beide Aspekte verbindet: Dieses vom RKI genannte „in Lösung bringen und damit wieder infektiös machen“ – bezieht sich das nur auf Flüssigkeiten, die kürzer als „tagelang“ außerhalb des Körpers waren und dementsprechend zwar schon getrocknet sind, aber noch aktive Viren enthalten können? Die Flüssigkeit auf dem Kabel in der o.g. Situation wäre ja z.B. mindestens 2 Wochen alt. Das wäre ja mehr als „tagelang“ und dann laut RKI im Umkehrschluss eventuelles Blut darauf eigentlich nicht mehr infektiös. Daher die Frage, ob eine „Lösung“ (welcher Art auch immer sie dann sein müsste, siehe unter 1.) auch bereits inaktive und nicht mehr infektiöse Viren wieder verflüssigen und damit reaktivieren/wieder infektiös machen könnte.   

Bitte verzeihen Sie die lange Schilderung. Mir ist vom gesunden Menschenverstand her bewusst, dass diese Situation eigentlich kein Risiko dargestellt haben dürfte, aber dadurch, dass ich mir „wissenschaftlich“ oder mit Fakten nicht wirklich erklären kann, warum (nicht), spukt es in meinem Kopf herum und lässt mir keine Ruhe. Ich würde so gerne verstehen, was mit HI-Viren passiert, wenn sie trocknen und was passieren müsste, um sie wieder aktiv/infektiös zu machen bzw. ob das jederzeit möglich wäre oder ich es richtig deute, dass sie zumindest ab einem gewissen Zeitpunkt (z.B. nach ein paar Tagen) unwiederbringlich  „zerstört“ sind (weil sie z.B. in der getrockneten Flüssigkeit dann nicht mehr nachweisbar sind oder die Virushülle irreparabel zerstört wäre) und somit keinen Schaden mehr anrichten können, selbst wenn sie in Lösung und/oder auf eine Wunde gebracht würden.

Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Zeit und Ihre Hilfe. Ich merke beim Durchsehen des Expertenforums, dass Sie hier vielen Leuten helfen, die sonst nicht wüssten, an wen sie sich mit ihren Fragen oder Sorgen wenden könnten. Das ist wirklich sehr ehrenwert.

 

Freundliche Grüße & bereits ein angenehmes Pfingstwochenende,

Kirsten

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Bisherige Antworten
Experte-Leidel
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29.05.2020, 11:50 Uhr
Antwort von Experte-Leidel

Guten Tag Kirsten2,

da haben sie sich wirklich viel Mühe gemacht. Und ich werde versuchen, Ihre Fragen zu beantworten. Dabei hoffe ich, dass meine Antworten Ihre Anforderungen an Wissenschaftlichkeit erfüllen.

Aber zunächst das Wichtigste: Auch wenn es sich bei dem Fleck auf dem Ladekabel um getrocknetes Blut eines HIV-Patienten mit hoher Viruslast gehandelt hätte, wäre die Situation für Ihren Freund oder Sie mit Sicherheit kein Infektionsrisiko gewesen.

Viren sind keine Lebewesen. Sie können sich selbst nicht vermehren, verfügen über keinen Stoffwechsel, können sich nicht fortbewegen. Viren sind "verpackte Erbinformation". das heißt, Viren bestehen aus einer Nukleinsäure als Erbinformation, die von einer Proteinkapsel umgeben ist. Manche Viren (wie z. B. HIV oder auch SARS-CoV-2) haben zusätzlich noch eine fetthaltige Außenhülle. Diese ist kein zusätzlicher Schutz, sondern macht das Virus wegen geringeren Stabilität der Lipidhülle noch anfälliger gegenüber Umwelteinflüssen.

Wenn ein Virus in einen Wirtsorganismus eingebracht wird (bei Corona z. B. durch Speicheltröpfchen oder Aerosole, bei HIV z. B. durch Kontakt von Schleimhäuten oder Blutkontakt), "kapert" die Erbinformation des Virus diejenige der Zelle und zwingt diese zur Produktion von lauter neuen Viren. Diese werden bei den umhüllten Viren durch die Zellmembran ausgeschleust, bei "nackten" Viren oft auch durch Zerstörung der Zelle und können in weitere Zelle eindringen.

Außerhalb des Körpers, der die Viren gerade vermehrt hat, befallen Sie entweder einen neuen Wirt und stecken diesen an oder sie gehen zu Grunde. Die Zeit in der Umwelt, bis ein Virus seine Infektiosität verliert und unschädlich wird, nennt man "Tenazität". Diese hängt ab von der Dauer, von der Temperatur, der Feuchtigkeit, Sonneneinstrahlung und vielen anderen Faktoren. Bei HIV kann unter für das Virus idealen Bedingungen die Tenazität wenige Tage betragen. Aber, wie das RKI zu Recht sagt, das hat mit der Fähigkeit zur Infektion nicht viel zu tun.

Im Labor kann man Viren z. B. auf Zellkulturen vermehren, dann auf verschiedene Oberflächen auftragen und nach verschiedenen Zeitintervallen mit sterilen virusfreundlichen Flüssigkeiten wieder in Lösung bringen und durch den Versuch, weitere Zellkulturen zu infizieren, schauen, bis wann eine Infektion noch erfolgen kann. Das hat aber mit unserem Alltag nichts zu tun.

HIV ist angetrocknet nach zwei Wochen in der Umwelt (auch im Dunkeln) sicher nicht mehr infektionsfähig.

zu 1.: Etwaige HI-Viren in angetrocknetem Blut können nach so langer Zeit ganz sicher nicht reaktiviert werden.

zu 2.: "Tagelang" meint in diesem Zusammenhang "einige Tage" und ganz sicher nicht "potentiell unendlich lang".

zu 3.: Nicht mehr infektiöse Virusreste können durch Lösungsmittel nicht mehr reaktiviert werden.

In Ihrem vorletzten Absatz haben Sie recht gut beschrieben, was nicht möglich ist.

"Ob ich es richtig deute, dass sie zumindest ab einem gewissen Zeitpunkt (z.B. nach ein paar Tagen) unwiederbringlich  „zerstört“ sind (weil sie z.B. in der getrockneten Flüssigkeit dann nicht mehr nachweisbar sind oder die Virushülle irreparabel zerstört wäre) und somit keinen Schaden mehr anrichten können, selbst wenn sie in Lösung und/oder auf eine Wunde gebracht würden." Ja, so ist es!

Mit freundlöichen Grüßen

Dr. Jan Leidel

Diskussionsverlauf
Corona: Welche Symptome sind möglich?

Die wichtigsten Fakten zum Coronavirus im Überblick und der aktuelle Impfstatus in Deutschland →

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